Essay: Von sich geben. Für eine negative Phonetik

Posted on Sep 20, 2013 in / Serial IFIT / Serial Publications


Von sich geben – vers une phonétique négative
Author: Christopher Dell

Ausschnitt aus dem Essay:

< In den Praxen der Musik, wie sie im 20. Jahrhundert
entwickelt wurden, spielen nicht nur Diskurse um neue
Aufführungsweisen, sondern auch Technologien des
Verschriftlichens musikalischer Performanz eine vor-
geordnete Rolle. Die Erfindung neuer Schriftmedien
wie Schallplatte, Tonband, CD usw. ermöglichen es, das
Aufführen musikalischer Prozesse zu fixieren. In diesem
Zuge erweist sich der Produktionsraum einer Verschrift-
lichung musikalischer Performanz als große Unbekannte.
Die Entwicklung verhilft einem neuen Klang-Ort zu ei
nem gigantischen Aufstieg: dem Tonstudio. Dort wird
jene, von Cage später vehement kritisierte, räumliche
Neutralisierung von Musik fortgeführt und verfeinert,
die im 18. und 19. Jahrhundert in der Einführung der
Salons und des Konzertsaals ihren Ausgang genommen
hatte. Das Tonstudio zeigt jenes Ensemble von filtern-
den, verstärkenden und komprimierenden Antworten an,
welche der Musikbetrieb in Auseinandersetzung mit der
Beherrschung oder gar Überwindung von alltäglichen
Nebengeräuschen gefunden hat.
Es gibt kaum einen Musiker des 20. Jahrhunderts,
der sich so sehr diesem Neutralraum gewidmet hat, wie
Glenn Gould. Dies ging so weit, dass er ab ei-
nem bestimmten Zeitpunkt seiner Karriere keine öf-
fentlichen Konzerte mehr gab und nur noch im Studio
»auftrat«. Etliche Dokumentarfilme zeigen, wie akribisch
Gould am Zusammenschnitt der Tonaufnahmen seiner
selbst bastelte. Daher überrascht, was beim Hören etwa
von Goulds Interpretation der Goldberg-Variationen sich
bemerkbar macht als murmelndes Grummeln mit oder
zu sich selbst. Noch heute kann man in Internetporta-
len Hilferufe von Hörern orten, die sich erkundigen, um
was es sich da handelte und wie man das abstellen könne.
Gould hingegen betrachtete seine stimmliche Äußerung
als essentiell, er wollte, obwohl er im Tonstudio ein
Klangfetischist war, nicht darauf verzichten. Woher aber
kommt dieses seltsame akustische Konterkarieren der
eigenen, instrumentellen Aufführungspraxis? Welchen
Sinn haben die Laute für Gould? >

„Von sich geben. Für eine negative Phonetik“ in: Böhme/Slominski (Hg.), Das Orale, Fink Verlag, München.