Essay: Neue Handlungsräume und Spielfelder
Ausschnitt aus dem Essay:
Neue Handlungs-Räume und Spiel-Felder
Improvisation als mentales Modell einer städtebaulichen Wende
von Christopher Dell
1. Orte lesen
Je mehr wir uns an etwas heranzoomen, desto komplexer und schwerer darstellbar ist dieses Etwas. Dies gilt natürlich auch für das Phänomen Stadt: Sie ist zu keiner Zeit ein abgeschlossenes Produkt. Um Architektur zu konzipieren, halte ich ein neues Lesen des Ortes für notwendig. Nicht nur seine Zeichensysteme gilt es zu entziffern, sondern ich verstehe Lesen im Sinne praktischer Aneignung, als erhandelte Erfahrung. Die scheinbar zusammenhangslosen Bewegungen von Stadt, im Sinne ihrer fortwährenden Produktion, können im Modus der Improvisation wieder als das sichtbar gemacht werden, was sie eigentlich sind: polyrhythmische Produktion von Raum.
Diese komplexe Struktur ist, und das ist das Wesen von Prozessen, nur in der und als Zeit lesbar.
Gerade heute – in einer Phase des Wenig-bauen-könnens – sollte die Zeit genutzt werden, um neu über ein mentales Modell von Architektur und Stadt nachzudenken, das gleichzeitig kontextuell und prozessorientiert ist. Mit der Abwendung von der Fokussierung auf das architektonische Objekt und der Hinwendung auf den weiteren Bezugsrahmen von Architektur kann eine städtebauliche Wende formuliert werden.
Dieser jüngste turn – als Transformationsprozess verstanden – stellt dem Lesen eines Raumes – im Sinne eines Aldo Rossi oder Oswald Mathias Ungers – ein Nicht-Lesen-Können gegenüber.
Improvisation ist die Praxis der Transformation: ich muss versuchen, zu verstehen, also lesen. Gleichzeitig muss ich aber auch wissen, dass ich nie lesen kann – also wissen, dass mir das Lesen verstellt bleibt.
Das Denken in Prozessen impliziert jedoch nicht, dass auf das gebaute Objekt keinen Bezug mehr genommen wird. Im Gegenteil: Es wird über das Objekt hinaus gedacht. Dabei könnte das Monument als Form der Inspiration im Hinblick auf neue mentale Modelle hin interpretiert werden. Damit ist Handlung nicht ausgeschlossen, sondern erweitert sich in einer neuen Dimension. Hinter dem Lesen liegt ein Interesse verborgen, den Ort zu transformieren und gleichzeitig nicht hinter sich selbst zurückzugehen. Die Mittel hierfür sind die Instrumente der Intervention, die stark sind, aber trotzdem bescheiden.
„Neue Handlungsräume und Spielfelder“, in: shrink to fit, Revolver Verlag, Frankfurt am Main.