Essay: Zehren von Unbestimmtheit – Urbane Landschaft als bestreitbare Tatsache

Posted on Sep 21, 2012 in / Serial IFIT / Serial Publications

Ausschnitt aus dem Essay:

 

Zehren von Unbestimmtheit –
Urbane Landschaft[1] als bestreitbare Tatsache
Christopher Dell

„Die soziale Welt ist von Asymmetrien, Hierarchien und Ungleichheiten geprägt; sie gleicht der zerklüfteten Landschaft eines Hochgebirges; kein noch so großer Enthusiasmus kann diese Asymmetrien zum verschwinden bringen.“[2] – Bruno Latour

Mit der Theorie Bruno Latours und dessen Diskussion des agency-Begriffs gerät die neue Möglichkeit in den Blick, Stadt als materiales Geflecht zu interpretieren das erstens nicht an sich existiert, sondern immer wieder performativ herzustellen ist, zweitens selbst als Ding Wirkmacht entfaltet und drittens als Versammlung von Existenzformen über eine bestimmte (nämlich mit Unbestimmtheiten volle) materiale Ökologie verfügt die man untersuchen und der man sich bedienen kann. Dem Ding Stadt würde, gefasst als urbane Landschaft, „erlaubt, als vielfältig entfaltet zu werden und damit auch, durch verschiedene Gesichtspunkte erfasst zu werden, bevor es möglicherweise in irgendeinem späteren Stadium vereinheitlicht wird, abhängig von den Fähigkeiten des Kollektivs dazu.“[3] Der Begriff der Ökologie soll hier sagen, dass in der Stadt sozio-materielle Fakten, Objekte, Infrastruktursysteme und Handlungen auf unterschiedlichen lokalen, regionalen und globalen Maßstabsebenen zusammenwirken. Aus dieser Stadt als relationale Landschaft sprechen die vielfältigen Interessen, Bewegungen, Bedürfnisse und Vorstellungen der Stadtnutzer die Stadt performativ herstellen. Es stellen sich damit neue Fragen: wie bildet die Stadt das materiale Format unseres Lebens? Was tut Stadt mit uns? Wie lässt sich in einer Vielheit von Stadt (Metaphysik) zu einer Einheit (Ontologie) gelangen?
Das bedeutet nicht, in einen vormodernen Zustand zurückzufallen und den Dingen eine Magie zuzusprechen, sondern unser Verhältnis zur Stadt zu untersuchen, die Stellungen und Relationen die wir zur Stadt als Stadtproduzenten einnehmen. Ob man nun Latour darin folgen will ob Dinge handeln oder nicht spielt weniger eine Rolle. Interessant ist vor allem, wie wir uns von dem Ding Stadt bewegen, affizieren lassen. Dies hat auch politische Relevanz, denn damit ändert sich auch unsere Sicht auf das, was unsere eigene agency als Existenzform oder Handlungsmacht (mit Stadt als Ding) zu bewirken im Stande sein könnte. Die Erweiterung der Begrifflichkeit von Stadt könnte einen Zugang zu einem Verständnis dafür zu erlangen, was es bedeutet, „das Spektrum der Existenzformen (agency) zu erweitern, alternative Handlungstheorien zu erkunden, ohne die Suche nach der Realität aufzugeben.“[4] Kurz: wir untersuchen mit dieser Fragestellung uns selbst und unser performatives Potential. Denn, wie der Kulturtheoretiker Hartmut Böhme herausstellt, können Dinge gar nicht anders „als Relate unserer Aktivitäten kognitiver oder praktischer Art“ [5] vorkommen.

 

[1] Urbane Landschaft ist hier nicht mit dem Begriff der “Stadtlandschaft” zu gleichzusetzen. Stadtlandschaft meinte im Städtebaudiskurs der Nachkriegszeit eine durchgrünte und gegliederte Stadt, in der Solitäre sowie Axialität und Parallelität vermieden werden sollten. Stattdessen war an eine ‘freie’, rhythmische Ordnung gedacht, die sich an ‘landschaftlichen’ Formationen orientieren sollte. Für uns jeodch ist Landschaft, wie im Text zu zeigen sein wird, eine Deutungsweise von Stadt, kein Objekt.
[2] Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt 2007, S. 109
[3] Latour, Eine neue Soziologie …, a.a.O., S. 203
[4] a.a.O., S. 208
[5] Böhme Hartmut, Fetischismus und Kultur, Reinbek b. Hamburg 2006, S. 14

 

„Zehren von Unbestimmtheit – Urbane Landschaft als bestreitbare Tatsache“, in: Clemens Bellut (Hg.), unbestimmt, Design2context, Lars Müller Publishers, Baden.