Essay: Improvisation

Posted on Sep 22, 2012 in / Serial IFIT / Serial Publications

Improvisation
Christopher Dell

Ausschnitt aus dem Essay:

Herr Dell, Sie zählen zu den führendenImprovisationsmusikern Europas und haben mehrfach Gastprofessuren für Architektur- und Stadttheorie übernommen. Wie sind Sie nach Ulm gekommen?

Bernd Kniess lud mich 2004 auf das Hearing zum Thema “Unschärfe – blur” ein. Das hat mich damals sehr interessiert, weil der Begriff “Unschärfe” unscharf geworden war. Eigentlich war Unschärfe während der postmodernen Diskussion und in den 1990er Jahren ein Begriff, den man auf alles und nichts anwenden konnte, der aber seinen Ressourcencharakter dadurch verlor, sodass man keinen Zugriff mehr auf die Unschärfe hatte. Das trieb mich um, da ich immer schon der Überzeugung war, dass die Unbestimmtheit genau dann zum grundlegenden Material wird, wenn wir die Fragestellung der Bestimmtheit selbst in Zweifel ziehen. Bestimmtheit in Zweifel zu ziehen ist eine ganz alte Angelegenheit, vielleicht sogar die Grundfragestellung des zwanzigsten Jahrhunderts: Was hat es mit der Unbestimmtheit auf sich und wie kann man Ordnungen schaffen, die dieser Unbestimmtheit Rechnung tragen?

Für mich waren auch viele Designbemühungen mit dieser Fragestellung konnotiert. Schon als Hannes Meyer sagte: “Wir komponieren nicht mehr. Komposition ist obsolet. Wir sind mit Funktionen und Bedürfnissen beschäftigt.”, zeigte sich schon als einer der ersten Versuche, dieser Unschärfe, die in den Bedürfnissen steckt, Rechnung zu tragen. Natürlich wird das nachher unter Funktionalismus subsumiert, ebenso wie der Versuch, diese Bedürfnisse einzuteilen. Später versucht der funktionalistische Städtebau mit der Charta von Athen die Stadt in ganz basale Gruppen der Funktionen einzuteilen, nach denen dann die Gestaltung sich ausrichtet. Städtebau mutiert zum rein rationalen Ordnungsraum. Als solcher hat er sich legitimiert. Nicht nur einen neutralen Ordnungsfilter über die Unordnung der Stadt zu legen, war radikal, sondern auch von der Komposition, also dem formellen architektonischen Ordnungsinstrument des 18. und 19. Jahrhunderts sich loszusagen. Die russischen Konstruktivisten haben versucht, eine bestimme Debatte zwischen Konstruktion und Komposition zu generieren zur Frage, was überhaupt die Differenz ist. Dann kam Theo van Doesburg, der sagte, er macht jetzt Gegenkomposition und l.st das in seine Bestandteile auf – dies führte zum Generalbass der Architektur und der Malerei.

Trotzdem verblieben die Konstruktivisten, ebenso wie die Funktionalisten, in einem euklidischen Raumverständnis hängen. Sie haben sich den Bedürfnissen der Unschärfe gewidmet, sind aber in diesem euklidischen Raum, dem Tabula-rasa-Gedanken verblieben und haben gedacht, sie könnten immer noch nach dem Verfahren des “Ordnungen über Unordnungen legen” arbeiten.