Essay: I wie Improvisation

Posted on Aug 1, 2003 in / Serial IFIT / Serial Publications

„I wie Improvisation“, in: Rettich/Hohmann (Hrsg.), A-Z – 26 Essays zu Grundbegriffen der Architektur, Verlag Walther König, Köln.

I wie Improvisation

von Christopher Dell (geb. 1965 in Darmstadt). Er ist Improvisationstechnologe und Performer. Er ist Leiter des ifit, Institut für Improvisationstechnologie, Insel Hombroich, und Autor der grundlegenden Studie „Prinzip Improvisation“, Köln 2002. Zahlreiche Auszeichnungen, Veröffentlichungen, Ausstellungen und Lectures zum Thema Organisation und Improvisation.

 

Ausschnitt aus dem Essay:

<  „Wo immer ich gerade gehe, denke ich an Pässe, Kombinationen, Möglichkeiten. Dann kommt das Spiel und ich bin bereit.“ Youri Djorkaeff

Als Yuri Djorkaeff in der Saison 1999/2000 zu Kaiserslautern wechselte, schrieb der Stern folgende Richtungsweisende Zeilen: Djorkaeff wirke in Kaiserslauterns Elf wie „ein moderner Jazzmusiker in einer biederen Blaskapelle: Da sind einfach zu wenige, die seine Improvisationen aufgreifen können – und wollen.“ Bedeutet das etwa, dass die anderen Spieler, allesamt gestandene Bundesligaprofis, nicht spielen können? Nein. Heißt es, dass sie nicht in der Lage sind, unerwartete Situationen zu lösen? Nein. Der Unterschied besteht einzig und allein in der Auffassung des Raumes.

Für Djorkaeff ist der Raum durchdrungen von Möglichkeiten, ein Feld der zu antizipierenden Optionen. Für die anderen Spieler ist der Raum ein objektives Raumgefüge, das nur dann durchbrochen wird, wenn sich ein Stürmer an der Abwehr vorbei schleicht. Dann greift der letzte Mann ein, beruhigt die Situation mit einer Grätsche: es gibt Freistoß und man kann in Ruhe seine Mauer bauen.

Letztere Art, komplexe Situationen zu lösen, könnte man als Improvisation 1. Ordnung bezeichnen, die allein als reaktives, reparierendes, Mangel ausgleichendes Prinzip agiert. Djorkaeff hingegen beherrscht die Improvisation 2. Ordnung: das Überführen erlernter Regeln und Praxen in ein antizipatorisches Konzept.

Ist Djorkaeff deshalb gleichzusetzen mit einem postmodernen Architekten? Nein, denn für ihn hat sich der Raum nicht aufgelöst. Ein Spielfeld hat immer noch dieselben Maße, das Tor steht mittig, und das Spiel dauert 90 Minuten.

Was also ist neu? – Die absolute Autonomie des Subjekts der Moderne wie auch deren Auflösung (Postmoderne) ist obsolet geworden. Eine neue Intersubjektivität von antizipierenden Improvisatoren ist gefragt. Denn mit der Zunahme der Geschwindigkeit des Fußballs ist es heute nicht mehr möglich, dass nur ein Spielmacher improvisiert und die anderen in der Tiefe des Raums warten. Felix Magath fordert: „Heute muss jeder Profi möglichst viele Passvarianten beherrschen“. Es geht also nicht um ein Konkurrenzprinzip von Hochperformanz des Einzelnen, sondern darum, neue Kooperationsmodelle im Sinne der Improvisation zu entwickeln, innerhalb derer alle Improvisationsteilnehmer gleichrangig an der Produktion und Konstitution von Raum teilhaben. Volker Finke positioniert seine Taktik deshalb konsequenterweise als Konzeptfußball im Gegensatz zum althergebrachten Modell des Heroenfußballs.

Die zeitgenössischen Strategien des Fußballs verweisen auf den prozessualen Raumbegriff Henri Lefebvres1, mit dem dieser die raum-zeitliche Organisation von Körpern, Handlungen und 60 improvisation deren Verknüpfungen als Raum Produzierendes beschreibt. Wenn also Raum aus der Praxis erst lesbar wird, ist es für die Architektur nur adäquat, sich um die Kunst des Handelns neue Gedanken zu machen.

Improvisation als Kunst des Handelns ist der konstruktive Umgang mit Unordnung – ein Konzept von Handeln, das sich im Handeln selbst entfaltet. Der Ort der Improvisation ist der Ort der Konvergenz von Konzeption und Ausführung. Improvisation verstärkt und fundiert die emergenten Strategien des Entwerfens und Planens. Sie kann als ein generierendes Prinzip gelesen werden, das einen gleichzeitig spontanen wie regelhaften Umgang mit der Umwelt hervorbringt. Dabei geht Improvisation nicht nur auf die real existierende Situation ein; sie verändert und erzeugt Situationen mit. Das Potential der Improvisation als ars inveniendi – als Kunst des Erfindens – ist dann nicht als Improvisation 1. Ordnung zu lesen, die allein als reparierendes, Mangel ausgleichendes Prinzip agiert, sondern als Improvisation 2. Ordnung, die bereits das Erlernen von Regeln und Praxen voraussetzt. Improvisation 2. Ordnung ist Kunst im Sinne einer praktischen Meisterschaft.

Der Struktur von Improvisation wohnt ein duales Prinzip inne: sie ist gleichzeitig modus operandi – Art des Handelns oder Produzierens – wie auch opus operatum – Produkt, Produziertes. Das aus dem Improvisieren erhandelte Produkt ist mit einer entscheidenden Besonderheit gekennzeichnet: es ist kein abgeschlossenes Werk, sondern ein offenes. Ein Produkt, das davon lebt, dass es neue Anschlusswerte und -produkte erzeugt, antizipiert und mit-meint. Als Improvisationsprodukt verfügt es deshalb über eine immanente Produktökologie, die sich nicht nach Effizienz im herkömmlichen Sinne eines Nullsummenspiels richtet, sondern durch seinen Modulcharakter von seiner Kopplungskapazität abhängig ist…>