Essay: Improvisationstechnologie
Ausschnitt aus dem Interview:
GENERALIST: Herr Dell, Planen ist das Thema unseres aktuellen Heftes, Improvisation ist Thema Ihres Buches „Prinzip Improvisation“ aus dem Jahr 2002. Planen und Improvisieren – der Plan und das Provisorium – sind das Gegensätze?
DELL: Nein. So verstanden sprächen wir von Improvisation erster Ordnung, dem landläufigen Begriff, der die Idee entwertet. Sie gehen dabei davon aus, einer Situation völlig ahnungslos gegenüberzustehen, mit „null Plan“; man hat also überhaupt keine Ahnung. Nichts. Totales Chaos. Dann lässt man sich treiben, nach dem Motto: „Irgendwie wird das schon klappen“. Das ist eine basale Alltagstechnik, die ohne Bewusstsein für das eigene Handeln, ohne Plan ausgeführt wird. Das wäre Trial and Error, die Art wie die Menschen vielleicht einst mit der Produktion von Dingen und Ideen begonnen haben.
GENERALIST: Dann ist Improvisation also eine Art Aufsatz oder Anbau an den Plan?
DELL: Improvisation, so wie ich sie verstehe, Improvisation zweiter Ordnung, ist eine andere Form der Planung. Es ist eine Planung, in der das Überschreiten des Plans mitgedacht ist. Man setzt also auf den Plan noch einen drauf; Improvisation heißt dann nicht etwa, dass man ohne Plan denkt. Im Gegenteil, man muss hierfür 30, 40, 50 oder gar 60 Pläne parallel vorhalten – eine maximale Planvarianz. Das kann aber niemand alleine schaffen, auch nicht ein Stararchitekt; das können nur Teams bzw. Kombos schaffen. Alleine geht es nicht.
GENERALIST: Haben Sie eine endgültige Definition für den Begriff Improvisation?
DELL: Ja und nein. Die Definition lautet: Improvisation ist der konstruktive Umgang mit Unordnung in Gemeinschaft. Das ist der zentrale Satz, allerdings ein rein formaler Satz. Hier fehlt noch die die Auseinandersetzung mit der jeweiligen Situation, die bewusste Wahrnehmung der jeweiligen realen Umstände. Erst das Situative füllt dann den Satz mit Inhalten.
Aber hier muss ich einhaken: Endgültigkeit ist ja keine Kategorie für Begriffe. Der Prozess der Bestimmung geht weiter. Begriffe sind ja nicht unbedingt Werkzeuge, die man eins zu eins anwenden kann. Sie können das sein, aber das reicht nicht hin, denn dann würden wir ja gar nicht wissen, wo die Begriffe herkommen.
Natürlich haben wir einen Hang dazu, uns Begriffe als naturalisierte Fakten anzueignen und unhinterfragt zu verwenden. Es ist ja auch das große Plus von Gesellschaft, dass Konsens und Konvention überhaupt möglich ist, dass wir also nicht ständig alles neu definieren müssen. Allerdings gibt es daran ein Haken:
Schon Platon sagt, es gäbe Ideen, die uns informierten. Daher wissen wir, was der Begriff ist, wir haben eine Idee davon. Der originären Idee aber können wir uns nur nähern, wir erkennen sie nie ganz. Aber es gibt sie bereits vor dem Denken, sie steht außerhalb unserer Welt. Und nur so können wir überhaupt das ganze Chaos ordnen; nur so, weil es etwas – die Idee – bereits gibt.
Kant sagte dann später, Begriffe seien lediglich leere Formen und es sei eigentlich unsere Syntheseleistung, die Begriffe weiter zu denken, sie zu erweitern, denn würden sie nicht erweitert, dann würde ja beim Denken nichts gedacht und nichts erkannt. Erkenntnis ist folglich nur das, was wir erkennen, was es erst dadurch gibt und was wir dann anwenden. Das ist es – extrem verkürzt -, was Kant die bestimmende Urteilskraft nennt.
In der Zukunft wird es aber die reflektierende Urteilskraft sein, um die es geht. Eine Urteilskraft, die sich im Bewusstsein darüber ist, dass sich die Regeln und Gesetze, die sie vorfindet, Projektionen sind, unsere Interpretation der Welt, und nicht umgekehrt. Das heißt, sie sind verhandelbar; das heißt auch, sie sind als Begriffe immer neu zu erfinden. Und genau darum geht es bei der Entwicklung eines Begriffes wie zum Beispiel Improvisation. (schaut auf die Uhr) Das wird jetzt hier Stunden dauern, aber das macht nichts.